Die Bedeutung der Hamstrings für Sport, Training und Prävention.
Anatomie
„Hamstrings“ oder auch „Ischios“ sind gängige Bezeichnungen für die Muskulatur an der Oberschenkelrückseite. Die ischiocrurale Muskelgruppe besteht aus dem zweiköpfigen M. biceps femoris hinten außen sowie dem M. semitendinosus und M. semimembranosus hinten innen. Sie entspringen am Sitzbein und setzten am Unterschenkel an. Damit fungieren sie als zweigelenkige Muskeln, die im Hüftgelenk strecken, sowie im Kniegelenk beugen können. Die rotatorische Wirkung auf den Unterschenkel spielt in dieser Thematik keine Rolle.
Funktionelle Anatomie
Offensichtlich ist die Streckwirkung auf das Hüftgelenk sowie das Beugen im Kniegelenk. Bei genauerer Betrachtung ist die häufigste Funktion der Hamstrings auf das Kniegelenk die Sicherung und Stabilisierung des Gelenks. Sie verhindert bei Fußkontakt mit dem Boden (die geschlossene Kette) ein nach vorne schieben des Unterschenkels in Relation zum Oberschenkel. Dadurch wird das vordere Kreuzband entlastet und geschützt. Die Hamstrings bilden den idealen Gegenpol zu den Kräften die von vorne vom M. quadriceps femoris wirken. Da bei Fußkontakt mit dem Boden die sogenannte „paradoxe Muskelfunktionsumkehr“ entsteht, ist sogar ein gewisse Streckwirkung der Hamstrings auf das Kniegelenk vorhanden. Bei Kontraktion dieser Muskelgruppe wird der Unterschenkel nach hinten gezogen. Bei stabilem Fuß kann das Knie nicht beugen, die Hamstrings werden zum Kniestrecker.
Die Funktion auf das Hüftgelenk ist natürlich die Streckwirkung aber auch auch die Stabilisierung des Rückenwinkels bei Squats und Deadlifts.
Die Bedeutung der Hamstrings für die Prävention
Einen Aspekt der Prävention habe ich schon genannt. Starke Hamstrings schützen das vordere Kreuzband. Bleibt die Frage, wie selbige stark werden. So viel ist mittlerweile klar: mit etwas Beinbeuger-Training, „funktional training“ oder „Kettlebell conditioning“ geschieht nicht viel. Squats und Deadlifts machen die gesamte hintere Kette unfassbar stark. Stärkere Athleten haben eine bedeutend höhere Schwelle, um das Knie in einer sportlichen Situation in eine Position zu bringen, die zu einer Verletzung führt. Natürlich spielen auch andere Faktoren, wie Bänder, Kapsel, Gelenkflächen und neuromuskuläre Effizienz eine Rolle. Aber klont man einen Athleten und macht den Klon stärker, wird er nicht nur der besserer Athlet sein, sondern er wird auch weniger verletzungsanfällig sein.
Korrekt durchgeführte Kniebeugen sind absolut sicher für das Knie. Das Design unserer Kniebeuge bringt die Knie in eine Position, die wesentlich weniger weit vor den Fußspitzen endet, als bei High Bar Squats oder Front Squats. Entsprechend weit hinten befinden sich die Hüften. Die Tiefe der Kniebeuge ist nicht maximal tief sondern effektiv tief. Eine Position, die unter einer maximalen muskulären Absicherung stattfindet. Wir nennen sie „knapp unter parallel“. Im Gegensatz dazu, muss man, um in eine ATG-Squat-Position (Ass to Grass) zu kommen, Muskelspannung aufgegeben. Die Knie werden folglich nicht maximal gebeugt, die Hüften je nach Proportionen schon.
Balancepunkt
Ein Grundsatz gilt für jede Art der Kniebeuge. Das Zentrum der Masse muss über der Mitte des Fußes ausbalanciert bewegt werden. Durch die Positionierung der Hantel unterhalb der Gräte des Schulterblattes, verkürzen wir das Rückensegment. Dies hat zur Folge, dass wir den Oberkörperwinkel stärker in Richtung horizontal verändern müssen, um die Masse über die Fuß Mitte zu bekommen.
Hebellänge
Die Hebellängen werden sichtbar von der Wirkungslinie der Last zur Drehachse. Die Wirkungslinie der Last ist die Senkrechte von der Hantel ausgehend. Die Hebellänge ist der horizontale Abstand von dort zur Drehachse. Wir betrachten zwei Drehachsen, das Hüftgelenk und das Kniegelenk. Das sowohl passiv als auch aktiv stärkere Gelenk ist das Hüftgelenk und dies erfährt den weitaus längeren Hebel. Dem Kniegelenk bleibt der entsprechend kürzere Hebel.
Die muskuläre Absicherung oder auch Führung erfolgt so ausgewogen von allen Seiten. Von vorne der Quadriceps, von der Außenseite durch die Hüftaussenrotatoren/Abduktoren, von innen durch die Adduktoren und von hinten die Hamstrings. Das setzten der Knie nach vorne erfolgt zudem sehr früh in der Abwärtsphase und der Bounce geschieht komplett durch die Hüftmuskulatur. Komplett anders sieht es da bei High Bar Squats und Front Squats aus, die zwar auch „korrekt“ gemacht werden könnten, aber zumeist aus den Knien gebounced werden. Meines Wissens gibt es keinen Fall von Sehnenansatzreizungen im Bereich der Patellarsehne all unserer Athleten der Starting Strength Community.
Selbst Menschen mit aktueller Kreuzbandruptur (nach Abschwellung) können eine volle Kniebeuge nach diesem Modell absolvieren, weil kein Stress in die Richtung des VKB wirkt. Sprich, wenn jemand eine konservative Therapie in Erwägung zieht, dann führt kein Weg an korrekt gelernten und durchgeführten Squats vorbei. Denn so wird die hüftstreckende Muskulatur effizient stärker und die Idee von „muskulärer Führung“ optimal umgesetzt. Ein ärztlicher Ratschlag bei VKB-Ruptur einen konservative Weg zu gehen, ohne ernsthaft zu trainieren, ist schon sehr zu hinterfragen. Wählt man aber diesen konservativen Weg mit korrektem Training ist die Chance umso höher, ohne OP erfolgreich stabil zu werden.
Die Bedeutung der Hamstrings für den Sport
Die Hamstrings sind Teil der sogenannten hinteren Kette. Zusammen mit der Glutealmuskulatur (Gesäß) und Adduktoren bilden sie die Hüftstrecker. Auch die Rückenstrecker werden zu der hinteren Kette gezählt. Diese strecken zwar nicht das Hüftgelenk, sind aber als Überträger der wirkenden Kraft eminent wichtig. Die hintere Kette spielt im Sport eine große Rolle, denn alles was mit laufen, springen, beschleunigen und Körperkontakt zu tun hat, hat seinen Ursprung der Kraftentwicklung dort. Der Ursprung von Kraft und Schnellkraft liegt in der hinteren Kette, deshalb ist die Kniebeuge so wichtig um sportliche Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Wer schneller rennen möchte, braucht mehr Kraft. Und zwar maßgeblich die Kraft der hinteren Kette. Sprinter wollen die Erdkugel unter sich zum drehen bringen. Entgegengesetzt zur Laufrichtung. Dies machen die Hüftstrecker.
Die Bedeutung der Hamstrings für das Training
Training der Hüftstecker
Die meisten Menschen denken bei Kniebeugen an ein Training der „Quads“, sprich der Muskeln der Oberschenkelvorderseite. Die Idee, den Oberkörper sehr aufrecht, eher senkrecht zu belassen, folgt dieser Idee.
Wir denken beim Training nicht an isolierte Muskeln, sondern an große Bewegungsmuster. Die Kniebeuge als Ganzes. Das Ziel ist, erstens, möglichst viel Muskelmasse zu involvieren und, zweitens, diese über den kompletten Bewegungsweg zu absolvieren. Und drittens, möglichst viel Gewicht bewegen zu können. Um mehr Muskelmasse zu generieren, optimieren wir den Bewegungsablauf, indem der Hebelarm auf das Hüftgelenk vergrößert wird. Die Hüften nach hinten schieben, den Oberkörper vorn über beugen. Einen eher horizontalen Rückenwinkel anstreben. Durch die Verlängerung des Hebelarms der Hüfte, aktivieren wir massiv die Muskelmasse der Hüfte. Die Gesäßmuskeln und die Hamstrings. Durch den schulterbreiten Stand mit ca. 30° außen rotierten Fußspitzen zusätzlich die Abd- und Adduktoren. Und natürlich die Rückenstrecker, die die Wirbelsäule in normaler anatomischer Streckung stabilisieren müssen.
Low Bar Squat
Vor allem die Bedeutung der Hamstrings bei dieser Art des Squats, der Low Bar Squat, ist interessant. Sie agieren primär isometrisch, denn ihre Muskellänge ändert sich nicht besonders, da sich sowohl die Knie als auch die Hüften beugen. Diese zweigelenkige Muskelgruppe verkürzt sich distal am Knie und längt sich proximal an der Hüfte, so dass sich die Gesamtlänge kaum ändert. Das ist auch der Grund, weshalb eine „Verkürzung der Ischios“ so gut wie nie der Grund für eine fehlende Tiefe darstellt. Der proximale Teil der Ischios muss nun den Rückenwinkel fixieren, während der distale Teil das Knie „festhält“. Beim Aufstehen aus der Kniebeuge, zieht der distale Anteil förmlich das Knie zurück, womit wir wieder bei der Streckfunktion auf das Kniegelenk sind. Der hüftnahe Teil leitet die Hüftstreckung ein und muss weiterhin den Rückenwinkel in stark vorgebeugter Position stabilisieren.
Diese von Mark Rippetoe als „Hip-Drive“ postulierte Formulierung ging um die Welt. Hip-Drive meint das Aufstehen mit „Hüfte hoch“ aus der Tiefe der Kniebeuge, um die Kraft und Muskelmasse der Hüfte zu nutzen. Der Squat ist zudem die einzige Übung im Krafttraum, die den Hip-Drive im Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus trainiert. Die Abwärtsbewegung ist der exzentrische Teil der Bewegung, die Aufwärtsbewegung der konzentrische Teil. Die Fähigkeit zur Kraftentwicklung ist im Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus besonders hoch. Die Gründe hierfür sind eine gewisse Speicherkapazität von Energie während der exzentrischen Phase. Und die Abwärtsbewegung dient als Vorbereitung für das zentrale Nervensystem, sich auf das Gewicht „einzustellen“. Im Vergleich dazu beginnt der Deadlift mit dem konzentrischen Teil der Bewegung.
Deadlift
Beim Deadlift starten wir mit hoher Hüfte aus der Ruhe mit der konzentrische Aktion. Die hohe Position der Hüfte und der geschlossene Hüftwinkel sowie der recht offene Kniewinkel längt die Hamstrings schon einigermaßen. Unbeweglichere Athleten verspüren hier bereits eine Dehnung. Gleichzeitig hilft die vorgespannte Position direkt beim Start und die Hamstrings sorgen dafür den recht horizontalen Rückenwinkel stabil zu halten und in Richtung Hüftstreckung zu öffnen.
Zurück zur Frage, wie die Hamstrings nun stark werden.
Alle beteiligten Muskeln an den genannten Grundübungen werden mit steigender Last kräftiger und in besonderem Maße die Hamstrings. Die Möglichkeit mit diesen Übungen kräftiger zu werden, übersteigt alle anderen Maßnahmen. Man vergleiche dies z.B. mit einem Beinbeuger-Training. Beim Beinbeuger-„Training“ verbessert man sich ein paar wenige Wochen. In wieweit diese Verbesserung zu einem nutzbaren Leistungseinsatz im Sport führt, bleibt dabei fraglich. Squats und Deadlifts können wir jahrelang verbessern, allein die Verbesserungsrate der ersten paar Wochen ist sofort in jeder Lebenslage zu spüren.
Jedem, der es auch nur einigermaßen ernst meint mit Sport und Training, sei hiermit angeraten, endlich korrekte Squats und Deadlifts zu lernen. Und diese zu trainieren.
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